Editorial (Michael Schirmer)
Das schwierige und in der öffentlichen Deutung oft als problematisch, defizitär oder gar pathologisch betrachtete Verhalten von Jungen nahmen die Bundesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit und die Landesarbeitsgemeinschaft BW Jungenarbeit mit einem Fachtag am 06. Mai 2013 in den kritischen Blick. „Die engen Grenzen von Normalität bzw. dessen, was als solche normativ gesetzt und akzeptiert wird, führen hierzulande dazu, dass Hyperaktivität oder das schlichte Anders-Sein mit psychiatrisierenden Strategien beantwortet werden.“, begründeten wir die thematische Auswahl in unserem Einladungsflyer.
Über 100 Teilnehmer_innen folgten der Einladung ins evangelische Studienzentrum Stuttgart – Birkach und erlebten lebendige und fachlich fundierte Vorträge, Workshops, sowie eine Abschlussdebatte, die in dieser Dokumentation zusammenfassend in Ton, Bild und Text wiedergegeben werden. Damit verbinden wir als Veranstalter die Absicht, wichtige Erkenntnisse des Fachtages einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Anregungen für eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit als problematisch empfundenen Verhaltensweisen von Jungen zu geben. Die in der Tagungsdokumentation vorgestellten Reflexionen und Kernaussagen werfen Schlaglichter auf pädagogische und medizinische/psychiatrische Diagnosen, mit denen Jungenverhalten definiert oder doch festlegend gedeutet wird. Sie beleuchten Definitionen von Gesundheit und Krankheit, spezielle jungenbezogene Themen wie Körperkult oder den achtsamen, sorglosen aber auch gefährdenden Umgang mit der eigenen Person. Darüber hinaus lenken sie den Blick auf normative Geschlechterkonzepte und geben Hinweise für einen sorgsamen, wertschätzenden und fördernden Umgang mit Jungen in ihren unterschiedlichen psychischen und physischen Entwicklungsphasen.
Die LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg bedankt sich ausdrücklich bei allen, die zum Gelingen des Fachtages beigetragen haben, den Referent_innen, aber auch den vielen freiwilligen Helfer_innen, die im Vorfeld, während und nach der Tagung dafür gesorgt haben, dass inhaltliche, administrative und technische Details reibungslos ineinander griffen. Der Zufriedenheitsgrad der Teilnehmenden kann – gemessen mit fast 40 Auswertungsbögen – als überdurchschnittlich hoch bewertet werden. Er bündelt sich in der vielfachen Zustimmung zur hohen inhaltlichen Qualität des Fachtages, aber auch in der mehrfach sinngemäß beschriebenen Aussage: Ihr wart ein gutes Team!
Wir freuen uns, wenn nun auch die Dokumentation, an der ebenfalls verschiedene Aktive der LAG Jungenarbeit BW e.V. mitgewirkt haben, Ihnen, den Leser_innen, als fachliche Fundgrube zum Thema Jungengesundheit nützliche Erkenntnisse vermitteln kann.
Michael Schirmer
-Referent der LAG Jungenarbeit BW e.V.-
Stuttgart im September 2013
Begrüßung und Einführung (Kai Kabs-Ballbach)
Der Vorsitzende der LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg, begrüßt die Teilnehmenden des Fachtages. In seiner Rede dankt er dem Ministerium für Soziales und insbesondere Frau Ministerin Altpeter, die die Schirmherrschaft für den Fachtag übernommen hat. Er betont die Besonderheit der Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit und markiert die Eckpunkte des Fachtages: Wie wird „krank sein“ oder „normal sein“ definiert? Was bedeutet die Modediagnose ADHS/Asperger-Syndrom für Jungen? Wo bzw. in welchen Kontexten wird das Verhalten von Jungen pathologisiert? Und wie können pädagogische Fachkräfte in dieser Rahmung eine gelingende Arbeit mit Jungen leisten?
[ Audiomittschnitt zum Download (8:55 min) | Einführungsvortrag ]
Eröffnungsvortrag „Krank oder krank gemacht – und wie geht’s den Jungs?“ Erfahrungen aus der medizinischen Praxis (Dr. med. Bernhard Stier)
Der Referent geht in seinem Eröffnungsvortrag mit Hilfe eines praktischen Ergänzungstests der Vorsorgeuntersuchung J1 auf medizinische Aspekte des Themas ein: Was beschäftigt Jungen in der Pubertät in Bezug auf ihren Körper und ihre Gesundheit? Welche Ängste und Ansprüche sind bei ihnen mit Sexualität verbunden? Welche statistischen Erkenntnisse gibt es über Jungengesundheit?
Weiterhin referiert und kommentiert er sachkundig und kurzweilig einschlägige Statistiken bzw. Daten verschiedener Erhebungen, u.a. eine Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland (KiGGs). Er gibt zu bedenken, dass eine genderreflektierende Gesundheitsforschung noch am Anfang steht und Daten daher mit Vorsicht zu betrachten sind. Schließlich weist er auf den Fakt hin, dass pubertierende Jungen oft keinen Ansprechpartner in Gesundheitsfragen haben, da der Arztbesuch nicht mehr von den Eltern organisiert wird und es – anders als bei Mädchen, die zum/zur Frauenärzt_in gehen – kaum auf jungenspezifische Probleme spezialisierte Mediziner_innen gibt. Ein bestimmtes Bild von Männlichkeit verhindert überdies, dass Jungen als „krank“ empfundene Phänomene artikulieren und sich Hilfe suchen.
[ Audiomittschnitt zum Download (22:53 min) | Power Point Präsentation (Dr. Stier) ]
Eröffnungsvortrag: „Krank oder krank gemacht – und wie geht’s den Jungs?“ Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis (Gunter Neubauer)
Der Referent greift die Daten der KiGGs-Studie auf und beobachtet darin und grundsätzlich den Mangel an Binnendifferenzierung, also das Fehlen einer eigenständigen vergleichenden allein auf Jungen bezogenen Betrachtung von Gesundheitsfragen. Er verweist auf die Notwendigkeit, weitere soziale Kategorien, wie etwa Migrationshintergrund, sozialer Status oder Bildungslage, hinzuzuziehen, um genauer zu beschreiben, welche Jungen sich „gesünder“ oder „kränker“ verhalten als andere. Er nimmt die Teilnehmer_innen auf einen richtungsweisenden Parcours-Ritt durch viele Gesundheitsthemen (von Adipositas, über Mediensucht bis hin zu Suizid) mit. Dabei bezieht er sich u.a. auf zwei wissenschaftliche Männergesundheitsberichte, an denen der Referent als Ko-Autor mitgearbeitet hat. Jeweils differenziert er kenntnisreich die entsprechenden Phänomene auf Jungen bezogen und stellt lösungsorientierte Fragen. Kritisch hinterfragt er, warum sich Gesundheitsberichte mehr mit Krankheit als mit Gesundheit befassen und plädiert für einen flexibleren und dehnbareren Begriff von Normalität, in dem sich auch Jungen mit ihrem oft riskanteren und extrovertierten Verhalten noch als gesund wiederfinden können. Dazu führt er in die Gesundheitsdefinition der WHO ein, die auf Jungen angewandt besagt, dass die Gesellschaft Bedingungen herstellen muss, die allen Jungen Gesundheit ermöglicht. Schließlich gibt er mit Hilfe der klassischen „Gesundheitsdreiecke“ praxisnahe Hinweise darauf, was Jungen brauchen, um sich gesund zu halten.
Bei Minute 24:35 kommt es zu einem kurzen Ausfall des Aufnahmegerätes. Wir bitten dies zu entschuldigen.
[ Audiomittschnitt zum Download (36:36 min) | Einleitung Kapitel „Jungen“ – erster deutscher Männergesundheitsbericht 2010 |Auszug Männergesundheitsbericht 2013 (Stress, SVV, Suizid) ]
Diskussion B. Stier & G. Neubauer
Im Anschluss an die Eröffnungsvorträge reflektieren beide Referenten Aspekte ihrer Präsentationen im Dialog miteinander. Insbesondere debattieren sie, inwieweit sich Jungen aufgrund biologischer Determinanten anders verhalten als Mädchen und welchen Beitrag eine kulturell unterschiedlich prägende Sozialisation einträgt. Sie gehen dabei auf Fragen und Kommentare aus dem Publikum ein.
[ Audiomittschnitt zum Download (13:18 min) ]
Workshop 1 „Jungen und Gesundheit – unvereinbar, optimierungsbedürftig oder übergangen?“ (Gunter Neubauer & Bernhard Stier)
Im Workshop gehen beide Referenten – jeweils aus der medizinischen bzw. pädagogischen Sicht – auf die Thematik der Jungengesundheit ein. G. Neubauer befasst sich dabei besonders mit ressourcenorientierten Ansätzen aus der pädagogischen Praxis. B. Stier reflektiert medizinische Fragen entlang der körperlichen Entwicklung des heranwachsenden Jungen und verbindet diese mit praktischen Beispielen aus seiner Arbeit als Facharzt.
Aufgrund technischer Probleme fehlt in der Audiodatei leider der letzte Teil des Workshops.
[ Audiomittschnitt zum Download (1 h 14 min) | Dokumentation WS 1 | Power Point Präsentation WS 1 (Dr. Stier) ]
[ Hinweis auf das im WS besprochene Video „Olaf will’s wissen“ ]
Workshop 2 „Verrückte Jungen? Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose zwischen Entwicklungsperspektiven, Behandlung und Anpassungsdruck“ (Dr. med. Gottfried Maria Barth)
In diesem dialogisch angelegten Workshop referiert Dr. Barth zunächst Grundsätzliches zum Thema, wobei er unter anderem die zunehmende Internet- bzw. Mediensucht aufgreift. Anschließend beantwortet er die Fragen der Teilnehmer_innen vor dem Hintergrund seiner langjährigen jugendpsychiatrischen Praxiserfahrungen. Anstelle einer schriftlichen Zusammenfassung, gibt es im Folgenden einen ausführlichen Audiomitschnitt.
[ Audiomittschnitt zum Download (2 h 20:36 min) ]
Workshop 3 „Hauptsache ‚Groß rauskommen’ – Jungen und ihre Körperkonzepte in der Leistungsgesellschaft“ (Renato Liermann & Michael Meurer)
Aus technischen Gründen ist WS 3 nicht als Audiodatei verfügbar.
[ Dokumentation WS 3 | Power Point Präsentation (R. Liermann, M. Meurer) ]
Workshop 4 „Selbstverletzendes Verhalten von Jungs zwischen Individualisierung, Pathologisierung und Feminisierung“ (Yvonne Wolz)
Zu Beginn des Workshops werden die Erfahrungen der Teilnehmer_innen erörtert und dabei beleuchtet, wo ihnen in der Praxis Selbstverletzendes Verhalten (SVV) begegnet? Anschließend gibt die Referentin einen Überblick zum Forschungsstand und zu verschiedenen Erscheinungsformen von SSV. Deutlich wird dabei, dass SSV bei Jungen bislang kaum untersucht worden und gesellschaftlich tabuisiert ist. Praxisbeispiele und die konkrete Umsetzung für die Beratung runden den Workshop ab.
[ Audiomittschnitt zum Download (1 h 45:52 min) | Power Point Präsentation (Y. Wolz) ]
Prof. Harry Friebel war als Ko-Referent des WS 4 eingeladen, musste aber krankheits-bedingt kurzfristig absagen. Wir stellen Ihnen mit Einverständnis von Prof. Friebel zwei Artikel des Referenten zum WS-Thema zur Verfügung: (1) & (2)
WS 5 „Hetero- was? Heteronormativität in den pädagogischen Blick nehmen!“ (Ines Pohlkamp)
Thema des Workshops ist die Auseinandersetzung mit krankmachenden Strukturen der Heteronormativität, also der Dominanz von Heterosexualität und der dichotomen Norm von „männlich“ und „weiblich“, und daraus resultierenden Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit. Die Referentin beantwortet die Fragen der Teilnehmenden zu verschiedenen Begrifflichkeiten in Bezug auf Geschlechter und Beziehungsformen und zeigt Inhalte einer heteronormativitätskritischen Pädagogik auf. Das Fazit der Referentin: „Es gibt mehr als zwei Geschlechter und mehr als zwei Formen zu lieben.“
[ Audiomittschnitt zum Download (36:47 min) | Dokumentation von WS 5 | Power Point Präsentation (I. Pohlkamp) ]
Podiumsdebatte: „Störend, anders, krank? – Jungen-Alltag zwischen Etikettierung und Normalität“ (mit Gottfried M. Barth, Christoph Grote, Yvonne Wolz; Moderation: Kai Kabs-Ballbach)
In diesem dialogischen Abschluss-Forum werden die folgenden Fragestellungen erörtert:
- Wie kann man verhindern, dass Jungen aufgrund ihres auffälligen Verhaltens als „krank“ bezeichnet werden?
- Welche Themen müssten auf einem Fachtag „Kranke Mädchen“ verhandelt werden? Wie werden Eltern beraten, deren Jungen als „krank“ bezeichnet werden?
- Wie können „Laien/Mode-Diagnosen“ (z.B. ADHS und Asperger) verhindert werden?
- Was sollten Pädagog_innen können, um nicht in die Falle medizinisch-diagnostischer Zuschreibungen zu geraten?
- Was sind positive bzw. negative Seiten einer Segregation „kranker“ Jungs?
Die Podiumsteilnehmer_innen sind sich darüber einig, Krankheit auf einem Kontinuum zwischen „gesund“ und „krank“ einzuordnen, in dem nicht nur die kranken, sondern auch und besonders die gesunden Anteile einer Person angeschaut werden sollen. Sie debattieren Sinn und Unsinn von Diagnosen und verständigen sich über Funktion und systemimmanente (Rahmen-)Bedingungen von Krankheit. Gesellschaftskritisch beleuchten sie, welchen Einfluss Leistungsvorstellungen und eine Ökonomisierung des Alltags auf das gesunde Heranwachsen von Jungen haben. Ausgehend von der eigenen Beratungs- und therapeutischen Praxis entwickeln die Referent_innen eine ganzheitliche Sichtweise auf „kranke“ Jungen (und Mädchen), bei der Empathie und Beziehung wichtige Schlüssel zum Verstehen und Fördern sind.
[ Audiomittschnitt zum Download (40:58 min) ]
[Weitere Bilder zur Tagung ]
Weiterführende Literatur und Links:
- Stier, Bernhard; Winter, Reinhard (2013): Jungen und Gesundheit: Ein interdisziplinäres Handbuch für Medizin, Psychologie und Pädagogik. Stuttgart
- Männergesundheitsbericht 2013: „Im Fokus: Die psychische Gesundheit des Mannes“
- 13. Kinder und Jugendbericht der Bundesregierung (Schwerpunktthema Gesundheit)
- Barmer GEK Arztreport 2013 (Schwerpunkt ADHS